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§ 3 Polizeiliche Maßnahmen

(1) Die Polizei kann innerhalb der durch das Recht gesetzten Schranken die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren, soweit die Befugnisse der Polizei nicht besonders geregelt sind.

(2) Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat die Polizei diejenige zu treffen, die ihr nach pflichtmäßigem Ermessen erforderlich erscheint und den einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt.

(3) Durch eine polizeiliche Maßnahme darf kein Nachteil herbeigeführt werden, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht.

(4) Eine Maßnahme ist nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, daß er nicht erreicht werden kann.

 
 

1. Generalermächtigung

a) § 3 Abs. 1 SächsPolG ist die Generalklausel für polizeiliche Eingriffsmaßnahmen[1]. § 3 Abs. 1 SächsPolG ist nur anwendbar, soweit die Befugnisse der Polizei nicht besonders geregelt sind. Die Generalklausel hat subsidiären Charakter[2]. Kommt als Eingriffsgrundlage eine abschließende Spezialermächtigung in Betracht, ist die Anwendung der Generalklausel ausgeschlossen[3]. Der Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel ist nur dann nicht ausgeschlossen, wenn zu dem mit spezialgesetzlichen Regelungen zu verfolgenden Zweck weitere allein mit Mitteln des Polizeirechts bekämpfbare Aspekte hinzukommen und sich die zuständige Polizeibehörde auch hierauf stützt[4].

b) Mit der fortschreitenden Kodifizierung spezieller Einzelbefugnisse nimmt die praktische Bedeutung der Generalklausel ab. Während der Befugniskatalog des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes vom 1. Juni 1931 neben der Generalklausel nur drei Standardmaßnahmen - Gewahrsam, Eindringen in Wohnungen, Vorladung (§§ 15 - 17) - ausdrücklich nannte[5], regelt das SächsPolG in den §§ 18 bis 28 SächsPolG die sog. Standardmaßnahmen, in den §§ 30 bis 34 SächsPolG die Anwendung unmittelbaren Zwangs einschließlich des Schußwaffengebrauchs und in den § 35 bis 51 SächsPolG die Erhebung und sonstige Verarbeitung personenbezogener Daten durch den Polizeivollzugsdienst.

c) Bedeuten polizeiliche Maßnahmen keinen Eingriff in die Rechtssphäre eines Bürgers, z.B. Streifengänge und Streifenfahrten, Besichtigungen ohne Betreten von Grundstücken, Warnungen und Hinweise an die Öffentlichkeit[6], ist kein Rückgriff auf § 3 Abs. 1 SächsPolG erforderlich[7]. Diese Tätigkeiten der Polizei werden von § 1 Abs. 1 SächsPolG abgedeckt[8].

 

2. konkrete Gefahr

a) § 3 Abs. 1 SächsPolG schreibt als Eingriffsvoraussetzung das Vorliegen einer „im einzelnen Falle bestehenden Gefahr“ vor. Dabei handelt es sich um eine sogenannte „konkrete Gefahr“ für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung[9]. Siehe dazu die Kommentierung zu § 1 SächsPolG.

b) Von einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung kann nicht ausgegangen werden, wenn die Gefahr oder die Störung rechtmäßig, insbesondere verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Unter dieser Theorie der rechtswidrigen Verursachung fallen sowohl die Fälle der verfasssungsrechtlich erlaubten Handlung als auch der vorhergehenden behördlichen Legalisierung des gefahrverursachenden oder störenden Handelns oder Zustandes[10].

 

3. öffentliche Ordnung

Unter die öffentliche Ordnung fallen alle ungeschriebenen Regeln, die nach Auffassung der Mehrheit für ein geordnetes Zusammenleben unerläßlich sind. Zu den weiteren Einzelheiten vgl. die Kommentierung zu § 1 SächsPolG.

  

4. durch das Recht gesetzte Schranken

Nach § 3 Abs. 1 SächsPolG darf die Polizei nur „innerhalb der durch das Recht gesetzten Schranken“ Maßnahmen treffen. Beschränkungen für polizeiliche Maßnahmen sind die Grundrechte des Grundgesetzes (Art. 1 bis 19 GG) und der Verfassung des Freistaates Sachsen (Art. 14 bis 38 SächsVerf) Polizeiliche Maßnahmen, die in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreifen, sind nur zulässig, wenn der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, insbesonders durch einen entsprechenden Eingriffsvorbehalt oder kollidierende Werte mit Verfassungsrang. Auch die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten können die Anwendung des Polizeirechts beschränken[11].

 

 5. Ermessen

Bei polizeilichen Maßnahmen auf Grund von § 3 Abs. 1 SächsPolG steht der Polizei nach § 3 Abs. 2 SächsPolG Ermessen dergestalt zu, daß sie darüber zu entscheiden hat, ob sie zur Abwehr einer Gefahr oder Störung eingreift (Entschließungsermessen) und welche Maßnahmen sie gegen über wem trifft (Auswahlermessen hinsichtlich Art der Maßnahme und der Person des Störers)[12].

  

6. Rechtspflicht zum polizeilichen Einschreiten

Eine Rechtspflicht zum polizeilichen Einschreiten besteht, wenn eine Gefährdung oder Störung der öffentlich Sicherheit vorliegt und das Ermessen, ob zur Beseitigung der Gefahr oder Störung einzuschreiten ist, auf Null reduziert ist[13], so daß nur das Einschreiten rechtmäßig ist. Über die Art und Weise des Einschreitens entscheidet die Polizei auch in diesen Fällen nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen[14]. Ein Fall der Ermessenreduzierung auf Null folgt aus der Folgenbeseitigungslast der Polizei[15]. Diese Folgenbeseitigungslast entsteht, wenn die Polizei einen Zustand geschaffen hat, durch dessen Fortdauer Rechte des Betroffenen verletzt werden. Hier besteht ein Folgenbeseitigungsanspruch, der - soweit auf auf den Erlaß eines Verwaltungsaktes gerichtet ist - im Rahmen des § 3 SächsPolG zu einer Ermessensreduzierung auf Null führt[16]. So ist die Behörde verpflichtet, nach Ablauf der Beschlagnahmefrist eine zur Abwehr von Obdachlosigkeit beschlagnahmte Wohnung geräumt an den Wohnungseigentümer herauszugeben[17].

  

7. mildeste zielerreichende Maßnahme (Abs. 2)

Der Grundsatz des geringsten Eingriffs nach § 3 Abs. 2 SächsPolG ist ein Teil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art 20 Abs. 3 GG). Die Polizei hat die mildeste Maßnahme zur Zweckerreichung zu treffen. Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes des geringsten Eingriffs ist, daß der Polizei zur Abwehr einer Gefahr mehrere mögliche und gleich geeignete Maßnahmen zur Verfügung stehen, zwischen denen sie zu wählen hat[18]. Z. B. ist die Beschlagnahme einer baurechtswidrig errichteten Wagenburg für sechs Monate ist nicht das mildeste Mittel, wenn auch eine geringere Beschlagnahmedauer den Zweck erreicht hätte[19]. Kommt nur eine einzige Maßnahme in Betracht, so ist Absatz 2 nicht anwendbar, sondern nur Absatz 3.

  

8. Verhältnismäßigkeit (Absatz 3) und Zweckerreichung (Absatz 4)

a) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet[20]. Er beinhaltet eine Zweck-Mittel-Relation. Das polizeiliche Mittel muß geeignet sein, den polizeilichen Zweck zu erreichen. Es muß das mildeste Mittel sein (s. § 3 Absatz 2 SächsPolG) und es muß im Einzelfall angemessen sein (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne)[21].

b) Eine Maßnahme ist zur polizeilichen Aufgabenerfüllung bereits geeignet, wenn sie zur Erreichung des polizeilichen Zwecks der Gefahrenabwehr wenigstens beiträgt oder diesen zumindest fördert[22]. Umgekehrt ist eine Maßnahme zur Gefahrenabwehr nicht schon deswegen ungeeignet, weil das Grundproblem hierdurch nicht generell beseitigt werden kann[23]. Bei der Beurteilung der Geeignetheit ist auf den Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme abzustellen. Durfte die Polizei bei verständiger Würdigung der in diesem Zeitpunkt bestehenden Sachlage von der Geeignetheit des gewählten Mittels ausgehen, so berührt es die Rechtmäßigkeit der getroffenen Maßnahme nicht, wenn sich das Mittel nachträglich als untauglich erweist.

c) Die Zweckerreichung (§ 3 Abs. 4 SächsPolG) ist ein spezieller Fall der Verhältnismäßigkeit. Ist der Zweck der Maßnahme erreicht oder zeigt sich, daß er nicht erreicht werden kann, wird eine Maßnahme unverhältnismäßig.

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[1] OVG Niedersachsen, NJW 2006, 391
[2] Rachor in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 2. Auflage, S. 396, Rdnr 454
[3] vgl. VG Arnsberg, NJW-Spezial 2008, 514 zu speziellen Regelungen in § 16 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG)
[4] VGH BW, VBlBW 1997, 465 für ein Betretensverbot gegenüber einem Asylbewerber wegen gefährlichen Kontakts zur Drogenszene; das Gebot, den zugewiesenen Aufenthaltsbereich nicht zu verlassen, hätte bei einem allein asylrechtlichem Bezug auch auf die einschlägigen Spezialregelungen des AsylVfG gestützt werden können; vgl. zum Platzverweis und zum Betretensverbot auch OVG Bremen, NVwZ 1999, 314 und VGH Bayern, DÖV 1999, 520
[5] Rachor in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 2. Auflage, S. 396, Rdnr 455
[6] ein sog. polizeiliches Gefährderanschreiben bedarf einer Ermächtigungsgrundlage: OVG Niedersachsen, NJW 2006, 391
[7] VGH BW, VBlBW 1997, 187, 188; Anderheiden, JuS 2003, 438
[8] OVG Niedersachsen, NJW 2006, 391
[9] VG Stuttgart, VBlBW 2002, 43, 44
[10] s. im Einzelnen Erläuterungen zu § 4 SächsPolG
[11] Linder, JuS 2005, 302ff
[12] so VGH BW, VBlBW 1997, 187, 188
[13] VG Minden, NJW 2006, 1450; Brenner, JuS 2005, 343, 346f; Beljin/Micker, JuS 2003, 556, 560
[14] Brenner, JuS 2005, 343, 346f
[15] Bumke, JuS 2005, 22, 27
[16] so VGH BW, VBlBW 1997, 187f; Bumke, JuS 2005, 22, 27
[17] VGH BW, VBlBW 1997, 187f
[18] Beljin/Micker, JuS 2003, 556, 560
[19] VGH BW, DVBl 1998, 96
[20] VGH BW, VBlBW 1997, 187, 188
[21] SächsOVG, SächsVBl 2000, 171, 174
[22] SächsOVG, SächsVBl 2000, 171, 174
[23] SächsOVG, SächsVBl 2000, 171, 174; BayVGH, BayVBl 2000, 85